Liederband 7

Aus der Einleitung:

Die hier vorgelegten ersten überlieferten Liedkompositionen Robert Schumanns (RSW Anhang M1 und M2) gehören zu seinen frühesten bekannten Kompositionsprojekten bis zum Jahre 1828. Die insgesamt 13, teilweise nur fragmentarisch ausgeführten Kompositionen sind in den Jahren 1827 und 1828 entstanden und in zwei äußerlich sehr unterschiedlichen autographen Manuskripten enthalten.
Neben dem 150. Psalm für Sopran, Alt und Orchester Anhang I10 und Ouverture und Chor Anhang I9, beide schon aus den frühen 1820er Jahren, handelt es sich bei den Liedern um die ersten überlieferten Handschriften eigener Kompositionen Schumanns – als verschollen gelten müssen dagegen Klaviertänze Anhang F1, vermutlich 1817/18 komponiert, sowie Anfänge eines Klavierkonzerts e-Moll Anhang B1 von 1827. Die 8 Polonaisen, die Variationen über ein Thema von Prinz Louis Ferdinand von Preußen für Klavier zu vier Händen Anhang G1 und G2 sowie das Klavierquartett c-Moll Anhang E1 entstanden 1828/29 und damit erst nach den meisten der hier vorgelegten Lieder. Darüber hinaus sind zwei weitere frühe Notenautographe Schumanns bekannt, die möglicherweise aus dem Jahre 1822 stammen: der Klavierauszug Anhang O4 der Titania Ouvertüre von Georg Christoph Grosheim sowie die Abschrift von Ouvertüre und Chor Anhang P13 aus Ferdinando Paërs Oper Achilles. Die Probleme der Datierungen im Rahmen der frühen Biographie des Komponisten sind nicht zuletzt im Gesamtausgabenband mit der Edition des 150. Psalms von Matthias Wendt (RSA IV/3/1,1) dargestellt und diskutiert.

Die zwei Liedmanuskripte sind die einzigen Quellen für die enthaltenen Kompositionen. Zugleich sind sie Dokumente unterschiedlicher Stadien, denn nicht alle sind vollständig notiert oder zu Ende komponiert; außerdem unterscheidet sich das Manuskript der zwei Kompositionen Anhang M1 deutlich von dem der übrigen Anhang M2. Während Anhang M1 offensichtlich vom Komponisten liegengelassen und wohl als Teil von Skizzenbuch III aufbewahrt worden ist (vgl. dessen Edition in RSA VII/3/2, hg. von Matthias Wendt), zeigt Anhang M2 einen größeren Plan: Im Sommer 1828 schickte der junge Schumann Lieder an die von ihm hochgeschätzten (Lied-)Komponisten Gottlob Wiedebein und Carl Gottlieb Reissiger zur Begutachtung. Im Falle Reissigers waren es nachweislich die ersten sechs Lieder des Konvoluts, und der junge Komponist erhielt eine ausführliche, in Details sehr konkrete und konstruktive Antwort einschließlich einiger Korrekturen im Manuskript.Welche Lieder Wiedebein zuvor erhalten hatte, ist nicht eindeutig zu belegen, blieb dessen Antwort doch recht allgemein.Vollständig notiert waren zu diesem Zeitpunkt nur die genannten ersten sechs, so daß Schumann wohl entweder dasselbe Manuskript erst an Wiedebein und gleich nach dessen Antwort an Reissiger schickte oder es – wahrscheinlicher – ein weiteres Manuskript mit (diesen?) Liedern gegeben haben muß.

Die Lieder Anhang M2 erhielten von Schumann, obwohl nicht alle Lieder vollständig ausgeführt waren, ein eigenes handschriftliches Titelblatt: Lieder / für eine Singstimme mit Begleitung des Pianof.[orte] / Erstes Heft. Nach der Aufzählung der Liedtitel nebst der Autoren für alle nicht selbstgedichteten Texte folgt eine Widmung an Schumanns drei Schwägerinnen Therese, Rosalie, Emilie sowie eine Bezeichnung als Op. II. Wann das Titelblatt entstand, ist nicht bekannt – immerhin müssen aber alle Lieder angefangen gewesen sein, da keiner der Titel nachgetragen ist. Ob das Titelblatt eher als Spielerei bzw. Koketterie zu verstehen ist oder Schumann tatsächlich an einen Abschluß der Lieder oder gar an eine anschließende Veröffentlichung glaubte, ist nicht bekannt. Überhaupt bleibt offen, wann und weshalb der Komponist das Projekt abbrach. Immerhin hat er später daraus geschöpft und musikalische Gedanken in anderen Werkzusammenhängen verwertet, was nicht ungewöhnlich für Schumanns Schaffensweise ist. Als Opus I hatte er den 150. Psalm gezählt, als Opus III und IV die 8 Polonaisen und die Variationen über ein Thema von Prinz Louis Ferdinand von Preußen für Klavier zu vier Händen Anhang G1 und G2 sowie als Opus V das Klavierquartett c-Moll Anhang E1, teilweise ebenfalls Fragment geblieben. Zu einer Veröffentlichung dieser Werke durch Schumann kam es nie. An der geplanten Widmung an die Schwägerinnen hielt der Komponist jedoch fest: Er eignete ihnen sein veröffentlichtes Opus 2, die Papillons, zu.

Die zwei Konvolute lassen trotz ihrer Verschiedenheit und ihres zeitlichen Abstands auch Bezüge zueinander erkennen: so stammen Lieder aus beiden Manuskripten schon aus dem Jahr 1827 und beide Manuskripte zeigen trotz Nicht-Abgeschlossenheit zumindest teilweise Reinschrift-Charakter. Daher werden sie als ein Komplex behandelt, der Lieder in unterschiedlichen Kompositionsstadien vereint: Diese reichen – gleichsam rückwärts betrachtet – von Liedern, die dem Komponisten vorläufig ausgereift, zumindest zur Begutachtung taugend schienen, über fertig ausgeführte, aber nicht weiter verwendete, sowie unvollständig ausgeführte bis hin zu insgesamt Fragment gebliebenen Ansätzen.
Um die Diskrepanz zwischen der im Titelblatt der Lieder Anhang M2 aufscheinenden Projektidee und der Realität und somit die Heterogenität des Bestandes möglichst deutlich werden zu lassen, wird in der Edition nicht zwischen – sicher auch nur scheinbar – beendeten Liedern in einem Hauptteil und Rohfassungen oder Fragmenten im Anhang unterschieden. Vielmehr wird das jeweils letzte Stadium der zwei Quellen ediert, wobei die Herausgeber nur sehr zurückhaltend eingegriffen haben, um das Stadium des Unfertigen der Kompositionsversuche nicht zu verschleiern.
Einige nachträgliche Revisionen Schumanns, die sich auf briefliche Bemerkungen Reissigers beziehen, zeigen, daß der angehende Komponist die Korrekturen und Anregungen des älteren ernstgenommen und ansatzweise einbezogen, wenn auch nicht konsequent zu Ende gebracht hat. Daher sind sie in der Edition berücksichtigt. Entsprechende Stellen sind im Notentext mit Grauraster hinterlegt.
Zwar wurden die 13 frühen Liedkompositionen Schumanns inzwischen alle publiziert, jedoch unzusammenhängend, mit großem zeitlichen Abstand voneinander und aufgrund der verschiedenen Zielsetzungen in unterschiedlicher Form. Dadurch war etwa der Zusammenhang der 11 Lieder Anhang M2 für die meisten Rezipienten nicht erkennbar oder zumindest nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Im Rahmen dieses Gesamtausgabenbandes werden die Kompositionen erstmals gemeinsam und ohne kompositorische Ergänzungen publiziert.
Da ein spätestens 1826 veröffentlichtes Liederheft Wiedebeins für Schumann und seine frühen Liedkompositionen als Anregung und Maßstab sehr wichtig war, der Druck heutzutage aber kaum zugänglich ist, ist das Heft im Faksimile-Beiheft wiedergegeben.